Projektbeschreibung
„Dass Polen im 16. Jahrhundert eine Großmacht war, deren politische und kulturelle Bedeutung sich neben die Frankreichs stellen kann, dass es noch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein mächtiger Staat war und während des ganzen Barockjahrhunderts bei allen Gebildeten Europas das größte Interesse erweckte, ja dass seine politischen Schicksale ganz Europa bewegten (…), das weiß heute kaum jemand im Ausland“, schreibt Maria Elida Szarota 1972 in ihrer wegweisenden Anthologie Die gelehrte Welt des 17. Jahrhunderts über Polen (Wien, Europaverlag, Vorwort der Herausgeberin, S. 9). 40 Jahre danach scheint es nicht unangebracht, sich die Frage in Bezug auf die polnisch-litauische Adelsrepublik erneut zu stellen, und die zahlreichen Quellen der Reiseliteratur (im weitesten Sinne des Wortes) der frühen Neuzeit in dieser Hinsicht wieder aufzugreifen. Dabei sollen vergleichende Perspektiven zu Polen-, Deutschland- und Frankreichbildern im Vordergrund stehen, um ein genaueres Verständnis der allmählichen kulturellen Hegemonie Frankreichs zu bekommen (siehe Herders kritische Haltung in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, 1774) und des sogenannten „West-Ost Gefälles“, das in zahlreichen Reiseberichten des 18. Jahrhunderts zur Erwähnung kommt, aber keineswegs kennzeichnend für das 16. Jahrhundert ist und nur begrenzt für das 17. Jahrhundert.
Aufgaben
Dieses Projekt soll darauf hinweisen, das deutsche, französische und polnische Reisetexte durchaus von erstrangiger Bedeutung im europäischen Vergleich sind und dass der „Grand Tour“ nicht nur ein englisches Unterfangen war, wie es David Constantine kürzlich meinte, indem er behauptete, die „Kavalierstour wäre eine britische Institution. Andere Nationen begaben sich auf Reisen, aber die Briten haben daraus eine Institution und Philosophie gemacht“ (in Jennifer Speake (Hrsg.), Literature of Travel and Exploration : An Encyclopedia, New York, Fitzroy Dearborn, 2003, Bd. 2, S. 499). In diesem Zusammenhang erscheinen auch Adam Kerstens Bemerkungen in seiner historischen Einführung zu Szarotas Anthologie besonders aufschlussreich: „In der öffentlichen Meinung des 17. Jahrhunderts waren England im Westen Europas und die Polnische Adelsrepublik im Osten in ihrer Bedeutung fast gleichranging“ (in Szarota, op. cit., S. 25). Was auch immer die Sache sich verhalten mag, ist es offensichtlich, dass ein mangelndes Kenntnis der Quellen immer wieder zu wenig fundierten Aussagen führt. Vergleichende und interkulturelle Ansätze wirken diesem entgegen und sind in Anbetracht des gegenwärtigen Standes der Forschung eine dringende Notwendigkeit.
Forschungsstand und -methoden
Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses soll Reiseliteratur, und zwar vornehmlich Kavalierstouren, Gesandtschaften und Presseberichte stehen. Da mangelnde Kenntnis der Quellen immer wieder zu wenig fundierten Aussagen führt, sollen hier in vergleichender, interkultureller Perspektive Bibliothek- und Archivbestände erforscht werden, die in dieser Hinsicht selten beziehungsweise nie gesichtet wurden, sowie bekannte Sammlungen, die immer noch interessante Funde versprechen, wie die Bibliotheken von Port-Royal in Paris, das Unitätsarchiv in Herrnhut sowie die umfangreichen Sammlungen von Kórnik, Toruń und Poznań. Somit entsteht nicht nur ein breiteres Bild, dass unter anderem zu einem umfassenderen Verständnis der Bedeutung Polens in der frühen Neuzeit beitragen soll, sondern auch neue komparatistische und interkulturelle Perspektiven, die einen wichtigen Beitrag zur Verständigung auf europäischer Ebene leisten können.